Cho Hikaru
Die chinesisch-japanische Künstlerin Cho Hikaru (*1993) hat eine eigenwillige Kunstform des Body-Painting entwickelt: Vor zwei Jahren malte sie in Ermangelung eines anderen Bildträgers auf ihre eigene Hand ein Auge, das täuschend echt wirkte. Ihr Umfeld reagierte erstaunt, geschockt und begeistert, was die junge Künstlerin motivierte, fortan Menschen in lebende Leinwände zu verwandeln und ihre temporären Körper-Kunstwerke zu perfektionieren. Mit ihren dreidimensionalen Illusionen, die sowohl irritierend als auch höchst faszinierend sind, zeigt sie, dass nichts so ist, wie der erste Blick und die Oberfläche es zunächst vermuten lassen. Mit ihrem Markenzeichen der bemalten Körper oder der Food-Art erreichte sie über Click-Hits im Internet bereits weltweit Aufmerksamkeit. Außerdem engagierte Amnesty International sie für die Kampagne „My Body, My Rights“, und für Samsung entwarf sie Cyborg-artige Body-Paintings. Mit der Einzelausstellung im Kunstverein Ludwigsburg feiert Cho Hikaru ihre Europapremiere: Erstmalig zeigt sie Fotografien, Illustrationen, Videos sowie Performances außerhalb ihrer Heimat und präsentiert Body-Painting den Besuchern auch live – ein einmaliger Einblick in das faszinierende Handwerk der Künstlerin und die Entstehung ihrer hyperrealistischen Bilder.
Die optische Täuschung reizte Künstler schon immer und nicht minder die Betrachter. Bekannt ist der Bericht von Plinius, Zeuxis habe im Wettstreit mit Parrhasius so naturgetreue Trauben gemalt, dass hereinfliegende Vögel an ihnen picken wollten. Parrhasius konterte mit einem Gemälde – Zeuxis bat ungeduldig, doch endlich den Vorhang beiseite zu schieben, um das sich vermeintlich dahinter befindliche Bild zu betrachten. Damit hatte Parrhasius Zeuxis vortrefflich getäuscht – denn der Vorhang war gemalt. In der Renaissance entwickelte sich dann das Trompe-l’oeil: perspektivische Darstellungenund Scheinarchitektur, die heute noch manchen Besucher in die Irre führt, wenn ein vermeintlicher Durchgang „nur“ gemalt ist. Die Stillebenmalerei im 16. und 17. Jahrhundert schloss daran an – zum Beispiel mit naturgetreu dargestellten Gegenständen, die an einer Holzwand zu hängen scheinen. Guiseppe Arcimboldo vermochte es dann, ein Gemüse-Stillleben zugleich als Gesicht eines Gärtners lesbar zu machen, eine doppelte Sinnestäuschung. Und schon Leonardo da Vinci hatte die Berührbarkeit der Skulptur als Vorzug gegenüber der Malerei ins Feld geführt – da der Tastsinn dem Sehsinn überlegen sei.
Identität im Wandel
Vor dem Hintergrund dieser Tradition wählt Cho Hikaru mit den Modellen, die sie bemalt, gleichsam – in Da Vincis Sinne – eine lebende Skulptur, ein berührbares Gegenüber, in das man sich hineinversetzen kann. Das halbe Wolfsgesicht, der Bücherrücken, der Blumenkopf oder der Blick durch die Wange in den Sternenhimmel beeindrucken und irritieren zugleich aufgrund dieser Kombination. Noch kurioser mutet an, wenn die jeweilige Bemalung und der Körperteil nicht in Einklang zu bringen sind: eine Hand scheinbar durch ein fußballgroßes Loch im Körper greift, unter der Haut ein Maschinengetriebe zum Vorschein kommt oder der blanke Fuß direkt mit einer Schuh-Schnürung verschmilzt. Damit thematisiert die Künstlerin auch die körperliche Verletzbarkeit beziehungsweise Unversehrtheit und Vergänglichkeit. Trotz unserer heutigen multimedialen Prägung sind solche Bilder durch das hohe Maß an Realitätsnähe umso verblüffender und sprechen uns direkt an: Was ist „normal“, wie verhalte ich mich in Anbetracht von etwas Fremdem, wie schnell be- oder verurteilt man Menschen aufgrund ihres Aussehens? Diese und weitere, sehr aktuelle Fragen wirft Cho Hikaru mit ihrer Kunst auf, die als in Japan lebende Chinesin selbst erfahren hat, wie schnell man über das Äußere ein- oder abgeschätzt wird.
Außer auf Körperteile malt Cho Hikaru auch direkt auf die Wand und gestaltet skulpturale Food-Art, bei der sie Obst oder Gemüse zu einem anderen Lebensmittel mutieren lässt: Eine Gurke entpuppt sich als Banane, eine Orange wird beim Aufschneiden zu einer Tomate – oder ist es umgekehrt? Die Illusion ist so perfekt, dass der Betrachter rätselt, welche „Realität“ denn nun die „wirkliche“ sei.
Dr. Petra Lanfermann