Guy Tillim – Jo‘burg

Von Klaus Honnef

Mit „Jo’burg“ vollzog Guy Tillim Ende 2003 den Schritt von der journalistischen zur künstlerisch-dokumentarischen Fotografie. Die Auszeichnung eines deutschen Automobilkonzerns lieferte den äußeren Anstoß für den Wechsel. Deren Dotierung befreite ihn für ein knappes halbes Jahr von der Plackerei des freien Journalisten auf der ständigen Suche nach einem fotografischen Ereignis mit der Chance, in den Medien veröffentlicht zu werden. Zum Gegenstand einer ausführlichen visuellen Recherche statt einer punktuellen Markierung wählte er das Zentrum der Stadt, in der er 1962 geboren wurde, Johannesburg. Zwar hätte es genügend Stoff für die journalistische Praxis geboten. Doch Tillim wollte mehr; eine genaue Darstellung.

Als nach dem Ende des Apartheitsregimes die restriktiven Wohnvorschriften für die schwarze Bevölkerung gefallen waren, zog es viele Schwarze in den zuvor nur Weißen vorbehaltenen attraktiven Stadtteil im Zentrum von Johannesburg. Die unmittelbare Folge war der Exodus der ursprünglichen Bewohner, und durch das Versagen der Stadtverwaltung und urbane Missmanagement verkam das Quartier in relativ wenigen Jahren zum Un-Ort. So machten sich korrupte Slumlords die Häuser und Wohnungen zu eigen, vermieteten sie, steckten die Mieten in die eigene Tasche und überließen Wohnungen und Mieter sich selbst. Infolgedessen verwahrlosten die Wohnungen, was zu einer neuerlichen sozialen Umschichtung der Bewohner führte. Das Viertel wurde alsbald zu einem Magneten für die Emigranten aus den Nachbarländern, die vor Hunger und politischer Drangsal nach Südafrika flohen, und eine Unterkunft um jeden Preis suchten. Das einstige Vorzeigeviertel wandelte sich zum sozialen Brennpunkt. Das Leben dort sei für die Bewohner mittlerweile, schrieb der Kunstkritiker Michael Smith, wie ein Dasein Tür an Tür mit der Apokalypse.

Tillim spürte schnell: Die Reportage war nicht das geeignete Format für das, was ihm, vielleicht noch intuitiv, vorschwebte. Seine journalistische Erfahrung als unabhängiger Reporter, erworben durch eine fast zwanzig Jahre währende Tätigkeit für eine britische und danach eine französische Bildagentur sowie zahlreiche Magazine in aller Welt, darunter der „Spiegel“, sagte ihm, dass er an der Oberfläche der tatsächlichen Probleme haften bleiben würde, wenn er sich ihnen mit journalistischer Sicht und Haltung näherte. Es war der Ausdruck einer schöpferischen Krise, ein bohrendes Unbehagen, das er bei seiner bisherigen Tätigkeit empfand. „Die Ereignisse sprachen nicht mehr zu mir“, erzählte er in einem Interview mit Arthur Walker. Also begann Tillim, sich eindringlicher mit den sozialen Verhältnissen der Innenstadt zu beschäftigen, wanderte immer wieder durch die Straßen, nahm die Häuser sorgfältiger in Augenschein, von außen und schließlich von innen, sprach mit ihren Bewohnern, lernte sie und ihre unterschiedlichen Geschichten kennen und erkannte, dass unter der Schicht der Verzweiflung ein ungeheurer Lebens- und Überlebenswille pulsierte, eine verschüttete Vitalität, die womöglich von den kommunalen Verantwortlichen nur ermuntert werden musste, um die Gegend zu neuer Blüte zu bringen. In jedem Fall gewann er einen erheblich differenzierteren und ambivalenteren Eindruck, als es ihm die ästhetischen Prämissen der Reportage erlaubt hätten. Er habe sich zunächst an W. Eugene Smith orientiert, dem amerikanischen Foto-Essayisten.

Tillim eröffnet „Jo’burg“ wie ein klassischer Spielfilm aus Hollywood mit einem Überblick über die Innenstadt von höherer Warte, gleichsam einem „Establishing Shot“. Aus der Ferne und von oben sieht die Szenerie aus wie nahezu jede Metropole. Hintereinander staffeln sich die mehrstöckigen Häuser und verdecken den Horizont unter einem grauen, leicht bedrohlich anmutenden Himmel mit leichten Aufhellungen über dem Meer. Nichts deutet auf etwas Ungewöhnliches hin. Erst die Bilder von den Flachdächern einzelner Gebäude im Anschluss, die zum Wäschetrocknen genutzt werden, und dem ebenerdigen Blick von unten hoch auf die schäbigen Fassaden verrät beim Gang durch die Straßen, dass der äußere Schein der Übersicht getäuscht hat. Indem sich von Bild zu Bild gleichsam der Fokus des fotografischen Autors auf die vielen Einzelheiten und eine Handvoll der Bewohner der Innenräume verengt, erweitert sich die Perspektive der Betrachter für die Dinge jenseits der Erscheinungen, die sich gleichwohl in ihnen offenbaren. Tatsächlich bedient er sich des subjektiven Kamerablicks. Aber nicht in dem Sinne, dass der Blick des Autors den Blick der Betrachter vorprägt. Vielmehr, als ob die Betrachter an dessen Stelle selber die ausgedehnten Erkundigungen vornähmen.

Dazu trägt entscheidend das ambulante Prinzip bei. Es entfaltet sich in der Abfolge seiner Bilder als ein beständiges Wandern des Blicks. Unterbrochen von Verweildauern in den Räumen, rechts und links von langen, düsteren und häufig verdreckten Fluren und Gängen. Schmutzige Treppenhäuser sind zu überwinden, um dahin zu gelangen. Der Bewegungsimpuls der Bilder erfasst unwillkürlich die Körper der Betrachter. Gelegentlich fällt der Blick von ganz oben in die mit Müll übersäte Tiefe und ruft – bereits durch das optische Gefüge – ein Schwindelgefühl hervor. In einem der Flure plötzlich ein halbautomatisches Gewehr, das aufrecht aus einer offenen Tür ragt. Man sieht nur die Hände, die es festhalten, nicht den Inhaber der Waffe. In einem Keller ist der Zugang durch Stacheldraht verwehrt.

Tillim nutzt sämtliche ästhetischen Mittel der Fotografie, die journalistischen inklusive: das Repertoire des Neuen Sehens mit den jähen Perspektiven aus der Vogel- und der Froschperspektive; die präzise Bildstruktur der modernen Architektur- und Stadtfotografie; die scheinbar widersprüchliche Mischung aus kritischer Indifferenz und passioniertem Engagement der neueren Dokumentarfotografie. Er verbindet die bisweilen disparaten Sichtweisen zu einem Ensemble der Widersprüche und untergräbt die Grenzen einer bisweilen doktrinären Dokumentarauffassung. Der ausgeklügelte Aufbau der Bilder kontrastiert mitunter schmerzlich mit dem Chaos der gezeigten Szenerie. Das geschieht vollkommen selbstverständlich, ohne dass sich der Bildautor Tillim in den Vordergrund schiebt. „Jo’burg“ ist ein außergewöhnlicher Beitrag zum „dokumentarischen Stil“ (Walker Evans), der in Wirklichkeit ein Stil ohne Stil oder, korrekter, ohne betonten Stilwillen ist.

Das ästhetische Ethos, das Tillim leitet, verkörpert sich schlagend in der Art, wie er die Einwohner von Zentraljohannesburg vergegenwärtigt. Nach und nach klinkt er sich in ihr Dasein ein. Mit Zurückhaltung und Distanz. Anfangs tauchen sie nur peripher auf; winzig klein, bei einem Brand oder beim flüchtigen Passieren in einem Treppenhaus, endlich als Silhouette in einem Zimmer. Erst nachdem die Kamera in ihren Wohnungen willkommen geheißen wurde, treten die Menschen direkt in Kontakt mit ihr, nicht vorher, und beginnen zwanglos zu posieren. Ihr selbstverständliches, beiläufiges Verhalten spiegelt die ästhetische Haltung des Künstlers. Eine Beziehung auf Augenhöhe, gekennzeichnet durch Respekt voreinander.

Wer Guy Tillims „Jo’burg“ mit gespitzter Aufmerksamkeit und Geduld betrachtet, erlebt eine ungewohnte Reise. Sie führt in eine komplexe, unerbittliche, fremde und veränderungsbedürftige Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, über die geschrieben, gestritten und geurteilt wird und die doch kaum jemand von außerhalb kennt, obwohl sie allgegenwärtig ist. Tillim gibt einen Einblick voller Empathie – die Farbe Rot schlägt das signifikante Leitmotiv an.

Büro für verschiebbare Haltungen im Salon – Anstiftung

Seit 2012 erarbeiten wir, das sind Rüdiger Penzkofer und Rainer Schall, immer wieder Konzepte für gemeinsame Ausstellungen. 2014 gründeten wir das „Büro für verschiebbare Haltungen“. Innerhalb dieses Rahmens untersuchen wir Methoden der inhaltlichen und formalen Zusammenarbeit.

Wichtig ist uns dabei besonders der kollektive Ideen – und Produktionsprozess, der die Verwirklichung eines Ausstellungsprojekts ausmacht. Das wird sichtbar auch dadurch, dass die einzelnen Objekte nicht uns als Einzelpersonen zugewiesen werden müssen, sondern eben dem Büro als verantwortlichem Kollektiv. Die Ausstellungen entstehen in Auseinandersetzung mit dem Ort/Raum und einem sich daraus ergebenden Thema, was auch heißt, dass die Objekte oft eigens für diesen Ort produziert werden. Dabei sind weder Stil noch Medien verpflichtend. Verpflichtend ist der Raum, das Thema und die gewählten Methoden der Formentwicklung, des Recherchierens und schließlich Produzierens oder Kuratierens.

Zurzeit beschäftigen wir uns mit utopischen Energien und ihren Verwirklichungsfallen. Nach Regensburg und Würzburg ist Ludwigsburg die 3. Station zum Thema in diesem Jahr. Utopie verstanden als „Denken nach Vorn“ und „eine Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein sollte“. Eine solche Haltung holt ihre Energie auch aus dem dagegen sein, aus der Anstiftung zum ANTI.

Anstiftung zur Antihaltung als eine Pose des selbstgefälligen Trotzes und der Abgrenzung ebenso, wie als ernsthaftes Nachdenken über die Beschaffenheit des Besseren. Die Entdeckung des Anti ist ein bedeutender Entwicklungsschritt auf dem Weg von der magischen Götterwelt in die Welt des Ideenstreits um das „richtige“ Leben.

Dem Streit um die beste aller Welten ist die polemische Grundhaltung eingeschrieben. Agitation, Provokation, Übertreibung, Witz und Verunglimpfung sind die Mittel der Wahl. Dabei geht es uns weniger um konkret ausformulierte Modelle, oder eine bestimmte Ethik (es gibt schließlich auch ausgrenzende, aggressiv menschenverachtende Utopien, wie aktuell wieder zu beobachten), sondern um die Quellcodes/ die inneren Zustände, und ihre Darstellung in einer metaphorischen Verdichtung. Das Utopische ist immer vorläufig, unfertig. Es gibt den utopischen Bildrest in der Verwirklichung. Er verweist beständig auf das noch nicht, das im nicht enthalten ist. Möglicherweise ist es wünschenswert, dass die Utopie, der Nicht – Ort, als solcher unerreichbar bleibt, und im Abnutzungsprozess der unvollkommenen Wirklichkeit die Utopien menschliches Maß bekommen.

Anstiftung zum revolutionären Individuum ist der erste Schritt auf dem Weg zur Veränderung. Und dann das ist der ewige Stachel: Es gibt immer jede Menge Opfer, wird geträumte Utopie als konkrete Utopie knallhart ausgestaltet. Das Misslingen, die Verwirklichungsprothesen und die Montage alter und neuer, großer und kleiner Ideen ist natürlich Teil der Wahrheit. Politik will aus Utopie Programme zur Verwirklichung machen. Kunst benutzt utopisches Denken, um die Verhältnisse aufzulösen, beweglich zu machen. Das interessiert uns.