Thukral and Tagra – Lullament 2

Ein regelmäßiges, rhythmisches Rauschen empfängt den Besucher, der den Ludwigsburger Kunstverein betritt. Es erinnert an die Brandung des Meeres und wird begleitet von einem tiefen, gleichmäßigen Summen. Der Blick in den Ausstellungsraum macht den Ursprung der Geräusche sichtbar: Sieben große Holzbahnen füllen einen Großteil des Bodens aus. In ihnen bewegen sich Hunderte orangefarbene Tischtennisbälle – erst in die eine, dann wieder in die andere Richtung; angetrieben vom Wind, den Ventilatoren an den beiden Enden der Bahnen erzeugen. Ein stetiges Hin und Her.
Dem sich rhythmisch ändernden Klang kann sich der Besucher nicht entziehen, er hat eine meditative Wirkung. Nicht umsonst haben Thukral and Tagra ihre Installation Lullament2 genannt – ein Kunstwort, das sich unter anderem aus den Begriffen „Lullaby“ (Schlaflied) und „Lament“ (Klagelied) zusammensetzt. „Die repetitive Bewegung lindert Ängste und suggeriert ein sanftes therapeutisches Glücksgefühl“, formulieren die Künstler selbst. „Schlaflieder beruhigen den Menschen typischerweise im Übergang vom Wachen zum Schlafen und können ihn auch beim Übergang vom Leben zum Tod beruhigen.“
Schaut man sich die Installation genauer an, stellen sich allerdings auch andere Assoziationen ein. Die langen parallelen Bahnen lassen zum Beispiel an eine Bowlinghalle denken. Und auch die Tischtennisbälle verweisen auf die Welt des Sports und des Spiels. Tatsächlich nutzen die beiden Künstler diese Bildsprache seit vielen Jahren als Einstieg in einen Dialog mit ihrem Publikum. Zum einen, weil sich in diesem Bereich jeder auf irgendeine Weise wiederfinden kann. Zum anderen, weil im Spiel und im Sport jeweils bestimmte Regeln gelten, nach denen alle Beteiligten agieren. So gesehen ist das Spiel auch eine ideale Metapher für das Regelwerk, das unsere Gesellschaft bestimmt.
Auf die beschriebene Installation bezogen könnte das bedeuten: Die orangenen Bälle, die für die Individuen einer Gesellschaft stehen, werden von außen – den Regeln des gemeinschaftlichen Spiels folgend – immer wieder in die eine oder die andere Richtung getrieben. Im Großen und Ganzen folgen sie dieser Hauptbewegung: manche etwas überstürzter, andere zögerlicher. Und manchmal fallen einzelne Bälle auch aus der Bahn heraus. Sie sind nicht mehr im Spiel und haben damit sozusagen keinen Anteil mehr am gesellschaftlichen Leben.
Jiten Thukral und Sumir Tagra sind mit ihrem Studio in Gurgaon (bei Delhi) ansässig und arbeiten etwa seit der Jahrtausendwende als Künstlerduo zusammen. Mit den sozioökonomischen Missständen in Indien sind sie bestens vertraut. In Ausstelllungen wie Bread, Circuses & TBD, die im April 2019 im Yorkshire Sculpture Park eröffnet wurde, nehmen sie auch ganz direkt auf ein Themenfeld aus diesem Bereich Bezug. Im Mittelpunkt steht hier die verheerende finanzielle Situation indischer Landwirte, die etwa im Bundesstaates Punjab viele Bauern in die Verzweiflung – und bis hinein in den Selbstmord – treibt. Der Kampf der Landwirte und ihrer Familien ums Überleben wird hier am Beispiel des kushti greifbar, einer traditionellen Form des Ringes, die eng mit den indischen Bauerngemeinschaften verbunden ist. Allerdings werden die Missstände nicht etwa in Reportagen visualisiert, sondern in einer großen Installation vorgestellt, die den Besucher zum Akteur innerhalb eines Spiels macht. Er ist eingeladen, durch das Einnehmen bestimmter Posen gegen eine unsichtbare Kraft zu kämpfen und in verschiedenen Manövern die Herausforderungen kennenzulernen, mit denen die Bauern konfrontiert sind.
Dank dieser Vorgehensweise werden Fragen, die zunächst einen bestimmten lokalen Kontext betreffen, auf eine Ebene gehoben, die auch für den Außenstehenden verständlich ist. Ziel, so die Künstler, sei die Eröffnung eines „viel größeren, zyklischen Dialogs, an dem wir alle beteiligt sind. Wir wollen etwas schaffen, auf das jede Person reagieren kann, basierend auf ihrer eigenen persönlichen Erfahrung“. Das anhaltende Interesse an den Themenbereichen Spiel und Sport sei letztlich dem Anliegen geschuldet, die Komplexität gesellschaftlicher Themenfelder erfassbar zu machen und den Umgang mit ihnen zu erneuern.
Zu dieser künstlerischen Strategie gehört auch ein Verfahren, das insbesondere im Bereich des Computerspiels weit verbreitet ist: das Modding. Die Abkürzung „Mod“ steht für modification und bezeichnet in der Gaming-Welt die kostenlose Veränderung oder Erweiterung eines Spiels; sie wird meist von einem nichtprofessionellen Spieleentwickler erarbeitet und der Community zur Verfügung gestellt. „Im Rahmen des Gaming feiert und würdigt eine Mod ein bestehendes Spiel“, erläutern Thukral and Tagra. „Dieses Spiel hat bereits eine Gemeinschaft von Menschen, die es kennen und seine Feinheiten verstehen.“ Deshalb habe eine Mod auch Macht: „Sie stört den vertrauten Rahmen, der um ein bekanntes Spiel herum existiert, indem sie es in einem neuen Format wiedergibt.“
Beziehen könne sich eine Modifikation im Grunde auf viele Bereiche, etwa auf Bildung, Kunstpraxis, Forschung, Marketing und Management. Für Künstler läge die erste Motivation allerdings darin, „Poesie über eine gewöhnliche Oberfläche zu legen“. Denn „ähnlich wie bei Found Footage, Found Sounds und Found Objects“ beziehe sich die Modding-Praxis in der Kunst „auf ein vorgefundenes Spiel, das dann rekontextualisiert wird, um zu einer sehr spezifischen Intervention zu werden.“
Was das konkret bedeuten kann, machen einige Exponate in der Ludwigsburger Ausstellung anschaulich. Zwölf auf Folien ausgedruckte Zeichnungen zeigen Gebilde, die zwar eindeutig an Tischtennisplatten erinnern, diese aber völlig neu interpretieren. Die Platten sind gewellt, umgeklappt oder geknickt, werden zu Landschaften, Sheddächern oder Treppen. Eine ist gefaltet wie ein Buch, eine andere wird von einer Rinne durchzogen. Doch trotz ihrer Unterschiedlichkeit folgen sie alle dem gleichen Prinzip: Sie wurden formal verändert, so dass sich bei einer fiktiven Benutzung die Regeln des Spiels ändern würden.
Modding wird auf diese Weise selbst zu einem spielerischen Prinzip und kann in den Augen von Thukral and Tagra große Veränderungen nach sich ziehen: „Wir beschließen zu spielen. Während wir das tun, beginnen wir etwas zu ändern. Wir modifizieren das System, das wir bewohnen: Bald stellen wir fest, dass alles und jeder beschlossen hat, seine Beziehungen zu uns neu zu gestalten, weil wir uns entschieden haben, ein aktiver Modder zu werden.“ Und sie fahren fort: „Unsere Züge könnten auch das Spiel selbst verändern. Denn ein Zug löst eine ganze Reihe von Kettenreaktionen aus. Diese Kettenreaktionen werden zum Spiel, das den Status quo erschüttert.“
Im spielerischen Eingriff in das bestehende Regelwerk sehen Thukral and Tagra also ein wirkungsvolles Werkzeug. Sie verändern Stück für Stück das Spiel als Ganzes. Und so wird die für fast jeden verständliche Sprache des Tischtennis in den Arbeiten des Künstlerduos zu einer Metapher, die das Prinzip des Moddings – und damit die Macht der spielerischen Intervention in gesellschaftliche Prozesse – unmittelbar zur Anschauung bringt.
Zugleich bezieht sich das Modding aber auch auf die mediale Umsetzung: Ob Malerei, Skulptur, Installationen, Video, Performance, Produkt- oder Grafikdesign: für Thukral and Tagra sind die Grenzen zwischen den Gattungen fließend. Themen und Motive, die sich als roter Faden durch ihre Ausstellungspraxis ziehen, werden den örtlichen, räumlichen und kulturellen Gegebenheiten des Ausstellungsortes stets angepasst. Nicht selten findet dabei ein Medienwechsel statt: Zeichnungen werden zu Installationen, Videos zu Performances, Malereien zu Spielanordnungen. Und so ist es durchaus denkbar, dass die Schwarz-Weiß-Prints der modifizierten Tischtennisplatten aus Ludwigsburg in einer zukünftigen Ausstellung die Form interaktiver Skulpturen annehmen – ähnlich den Beispielen in der parallel laufenden Astana Art Show 2019 in Kasachstan.
Wie die Motive sich durch unterschiedliche Medien ziehen und dort verwandeln, zeigen auch die zwei Gemälde, die an den Längsseiten des Ludwigsburger Kunstvereins hängen – allerdings nicht plan, sondern in sich bewegt, so dass man sie letztlich auch als Skulpturen deuten könnte.
Dass es sich – inhaltlich gesehen – um Tischtennisplatten handelt, dafür sprechen die weißen Begrenzungslinien der Spielfelder. Doch werden die großen Flächen zugleich auch als Bildträger für zwei aufeinander bezoge Motive oder Motivgruppen genutzt. In einem der beiden Gemälde formt sich die Querlinie, die die zwei Spielflächen teilt, zu einer Schleife. Die Längslinie hingegen verwandelt sich in einen Horizont, auf dem ein Eisberg schwimmt. Er spiegelt sich auf dem grünen Grund, der als Meer lesbar wird und sich im rechten Bildteil ins Rötliche färbt – möglicherweise der Hinweis auf einen Temperaturanstieg.
Im Gemälde gegenüber sind die beiden Linien des Spielfelds kerzengerade – so wie man es von einer Pingpongplatte erwartet. Doch erscheinen sie hier wie ein Fadenkreuz, auf dem eine organoide Form liegt. Sie wirkt wie ein Bild im Bild. In ihr sind verschiedene Motive zu sehen. Zwar taucht auch hier der Eisberg wieder auf, doch befinden sich vor ihm eine ganze Reihe verschiedener Objekte: etwa eine Turbine, ein Rad oder Holzlatten, die vielleicht zu einem gestrandeten Schiff gehören. Die Zeiger einer halb versunkenen Uhr stehen auf zehn nach eins und einige schwarz-weiß karierte Flaggen deuten auf ein Rennen hin, das hier vielleicht einmal stattgefunden hat. Manche Bildelemente wirken surreal und scheinen wie kleine Himmelskörper zu schweben, andere Gegenstände haben Moos angesetzt und dürften schon geraume Zeit nicht mehr in Gebrauch gewesen sein. Insgesamt werden Themenfelder wie Reise, Übergang und Vergänglichkeit evoziert.
Auch finden sich einige Streifen, die vor den Motiven liegen. Sie wirken wie störende Pixelketten. Handelt es sich hier vielleicht um einen medial vermittelten Blick aus der Zukunft zurück in die Vergangenheit? Und hat das digitale Bild durch das Altern gelitten? Der blaugrüne Hintergrund mit seinem perfekten Verlauf jedenfalls erscheint wie ein weiter Ozean, aus dem Eisberge längst verschwunden sind.
Der Bezug zu den brisanten gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit ist unübersehbar. Hier geht es um das schmelzende Eis an den Polkappen und die Frage, wie wir auf den Klimawandel reagieren. Um die Erderwärmung zu stoppen, so scheint das Gemälde mit der geschlängelten Linie und dem weitgehend intakten Eisberg zu suggerieren, bedarf es einer massiven Änderung des Regelwerks. Nur so lässt sich das Geschehen vielleicht noch stoppen. Das herkömmliche Vorgehen jedenfalls, das sich in den normgerechten Linien des Bildes mit den fragmentierten Objekten manifestiert, führt unweigerlich zur Katastrophe.
Aber noch ein weiteres Motiv, das in den Arbeiten von Thukral and Tagra immer wieder eine wichtige Rolle spielt, ist mit diesem bedrohlichen Szenario angedeutet: In der indischen Mythologie wird mit der erwarteten Ankunft von Kalki, der zehnten und letzten Inkarnation Vishnus, das Aufziehen eines „dunklen Zeitalters“ erwartet. Am Ende des Kali-Yuga, also unserer Epoche, soll Kalki auf einem weißen Pferd erscheinen, die Welt mit dem Schwert reinigen und das Dharma, die gesellschaftliche und kosmische Ordnung, wiederherstellen.
Auch wenn Thukral and Tagra in Ludwigsburg direkte Verweise auf die hinduistische Mythologie vermeiden, darf man die hier gezeigten Arbeiten auch in diesem Kontext deuten. Die Werkreihe Lullaments, so schreiben die beiden Künstler, „beschäftigt sich mit den meditativen Aspekten des Spiels und versucht gleichzeitig, die hinduistische Mythologie durch die Terminologie des Pingpong zu veranschaulichen.“ Ziel sei es, „vorgefasste Vorstellungen von kulturellen Inhalten als pedantisches Wissen“ in Frage zu stellen.
Die Auseinandersetzung mit der Mythologie führt dabei auch zu ganz grundsätzlichen Fragen. Etwa im Falle eines mit # Hypothesis überschrieben Diagramms. Es zeigt eine Tischtennisplatte mit zwei Schlägern, einem Ball und einem Netz. Verschiedene Symbole und Begriffe erläutern die einzelnen Elemente wie in einer Versuchsanordnung. Und Thukral and Tagra fassen zusammen: „Der Ball ist ein unbeständiges Wesen, ein Individuum, ein Fleck im Universum. Das Netz ist eine Schwelle des Bewusstseins. Es steht zwischen den beiden Kräften und grenzt die Bereiche des Tests ab. Der Tisch ist der Ort. Das Spiel ist die Lebensdauer. Die Spieler auf beiden Seiten sind die negativen und positiven Kräfte.“
Das Pingpongspiel wird hier – in Form einer Hypothese – also auch zur Metapher für die menschliche Existenz. Und damit schließt sich der Kreis zu der eingangs beschriebenen Installation. Denn auch hier wird der Mensch ja zum „Spielball“ gegensätzlicher Kräfte. Der Besucher der Ausstellung nimmt dabei in gewisser Weise die Position eines Beobachters ein, vor dem sich das „Weltenspiel“ in seiner ganzen medialen Vielfältigkeit ausbreitet.
Doch ist er nicht nur Beobachter: Der große Spiegel am Ende des Raums sorgt dafür, dass der Betrachter selbst in der Installation sichtbar wird. Als integraler Teil der Ausstellung ist er aufgefordert, im wahrsten Sinne des Wortes Position zu beziehen. Denn Thukral and Tagra geht es in ihren vielschichtigen, multimedialen und häufig partizipativen Environments nicht um das Vermitteln fixer Lehrinhalte. Vielmehr sehen sie ihre Ausstellungen als ein Dialogangebot an die Besucher, deren Reaktionen unmittelbar dazugehören.
Gleichzeitig wird durch die Dopplung des Raums mithilfe des Spiegels das duale Prinzip der Tischtennisplatte auf die Ausstellung als Ganze übertragen – ein Grund, weshalb Thukral and Tagra den Titel Lullament um den Zusatz square (hoch zwei) ergänzt haben und die zentrale Installation damit ebenso bezeichnen wie die Ausstellung insgesamt. Die Metapher erscheint – um in der Sprache des Spiels zu bleiben – auf dem nächsthöheren Level: Sie wird zu einem umfassenden Bild für die menschliche Existenz im Spannungsfeld gegensätzlicher Kräfte, in das der Betrachter unmittelbar mit einbezogen ist. In dem an- und abschwellenden Klanggefüge, das den ganzen Raum erfüllt, mitteln sich diese Gegensätze gewissermaßen aus. Und so fallen hier „Lullaby“ und „Lament“ – also Schlaf- und Klagelied –, Freude und Trauer, Leben und Tod auf einer ästhetischen Ebene tatsächlich in eins.

Winfried Stürzl, 2019

Annie Krüger im Salon – Round the Corner

Annie Krüger beschäftigt sich schon seit dem Studium an der Kunstakademie Stuttgart mit den Fragen alternativer Präsentationsformen. In der Klasse Prof. Paul Uwe Dreyers wurde damals häufig abstrakt, konkret gearbeitet. Doch schon bald reichte es der jungen Studentin nicht mehr aus lediglich Formen, Farben und Strukturen auf Papiere oder Fotografien zu geben. So erinnere ich mich schon früh an eine performative Arbeit, die sie im Intermedialen Gestalten aufführte: Sie hatte viele T-Shirts mit Werbung bedruckt, also Fotografie und auch Schrift, diese trug sie geschichtet am Körper und zog sie sich immer wieder nacheinander über den Kopf, wie bei einer lebenden Litfasssäule. Aufgeführt wurde es im öffentlichen Raum – der Einkaufsstraße. Das war etwa vor 17 Jahren, es war – in anderer Form – bereits angelegt, was auch heute wieder der Fall ist: dass Bilder ihre Form und ihren Platz wandeln und dadurch in einen Prozess gegeben sind, der nicht statisch ist und der den Blick sowohl auf die Werke selbst, aber immer auch gleichzeitig auf den Kontext verlegt, und das in einer gleichwertigen Art und Weise.
Als weiteres Beispiel möchte ich von einer der letzten Ausstellungen in Stuttgart berichten: Annie Krüger bestückte eine Stuttgarter Bahn-Unterführung am Charlottenplatz, ein Unort mit eher pragmatischem Ambiente: Kacheln, Stein, Treppen, gefühlt eckig und zugig, mit großen Formen und Bahnen an bemalten Papieren, die sie auf die Wand applizierte…Sie können sich vorstellen, dass bereits während der Vernissage – im wahrlich öffentlichen Raum – eine kleine Veränderung eingetreten ist: Wind, Vögel, Menschen streifen vorbei. Nicht nun die Wand, sondern Ecken, Boden, Decke sind mitbetroffen. Es gibt also Spuren von Begegnungen mit Passanten aller Art. Es schreibt sich eine eigene Geschichte in diese zuvor kühlen Abstraktionsformen ein. Mit jener Geschichte rücken Sie an uns heran und laden sich auch strukturell mit Bedeutung auf. Diese Werke wurden einige Tage danach in die Galerieräume der Stuttgarter Oberwelt „verlegt“, wo sie im neuen Umfeld nochmals neu wirken konnten und auch mussten. Auch hier wurden sie bezugsreich im Raum verortet und offenbarten ihre Gebrauchs- und Verbrauchszustände.
Nun also ins hier und heute: „round the corner“ – so der eindeutig zweideutige Titel der Schau, der die Tonnenform unseres Ausstellungsraumes aufs Korn nimmt und zugleich auch die immer vorhandene Wendigkeit und Vielansichtigkeit der gezeigten Werke widerspiegelt: Schon wieder taucht Annie Krüger also in den Untergrund ab – heute in den herausfordernden Gewölbekeller des Kunstvereins und zeigt hier, (die Werke dürften zusammengenommen gefühlt kaum mehr als 2kg wiegen und passen gerollt vermutlich problemlos in einen Kofferraum) auf sehr luftige Art und Weise eine Vermessung des Raums in eigentlich allen wesentlichen Dimensionen.
Sie sehen eine konzertierte konzeptuelle Reaktion auf den besonderen Raum mit den angesprochenen Spezialitäten; exklusiv für diesen sind die Objekte angefertigt worden. Wenn Sie die Werke betrachten, dann fallen Ihnen sogleich auch als Rahmen gewissermaßen die beiläufigen Dinge des Raumes auf, Steine, Lücken, Farbverläufe, Salpeterausblühungen an Wänden, Rohre, Röhren, Kabelstränge, auch das Notausgangsschild ist unvermeidlich. Wenn es schon da ist, dann darf man es natürlich nicht als blinden Flecken links hängen lassen, sondern kann es ins Gefüge einbinden, dachte sich die Künstlerin.
Beginnen wir also ganz von unten unten: Auf dem dunklen Boden steht ein ebenfalls dunkles boxartiges Karton-Objekt, es ragt schräg achsig aus dem Grund empor, der Betrachter beugt sich unwillkürlich hinunter. Aus der Nähe sehen sich die geraden vertikalen Einschnitte in den Karton, der die Kiste filigran auflöst und wie kleine Vorhänge die eingeschnittenen Fransen gemäß der Schwerkraft nach vorne hängen lässt. Erst jetzt wird ersichtlich, dass im Inneren dunklen Bereich eine fluoreszierende – lichtsammelnde – grünlich-gelbe Farbigkeit vorherrscht, die beinahe einen Bewegungsmoment hineinbringt. Das gilt übrigens für fast alle ihre Werke – dass sie durch Formzuschnitt oder die malerische Geste eine dynamisierende Tendenz bekommen. Bewegung erscheint als Drift, Schwung oder Strudel.
Hinter der Box – die tracheenförmige Reihung und der Winkel als Schräge wird aufgenommen – sind 7 längliche Papierbahnen an der Wand fixiert. Sie wölben oder schälen sich in sich verdreht von der Wand weg, so als würde ein Windzug beständig an ihnen zerren. Auch hier offenbaren sich Vorder- und Hinterseite als zwei konträre Seiten einer gleichen Medaille, vorne gelblich ocker (die Wand lässt grüßen) hinterrücks Schwarz, es erinnert daran, dass hinter den Steinen das dunkle Erdreich sitzt. Fast übersehen haben wir noch von vorne einen zarten Faden, der von einer fensterartigen Einbuchtung des Gewölbes aus als rundliche Gegenform der Gewölbetonne zu Boden sinkt. Die Physik, also Anziehungskraft und Schwere, zeigt ihre Gesetzmäßigkeiten am Material.
Die Form der schrägen Box findet ein weiteres Echo am Ende des Raumes. Hier ist ragt eine Formfläche vom Boden empor, die wie ein Schatten der Box wirkt, der wäre normalerweise dunkel; hier allerdings kippt die Farbe ins Helle; geschnitten wird sie von einer freischwebenden brückenartigen geschwungenen gelben Klammer. Als Betrachter sind Sie immer angehalten im Raum ihren Blickwinkel und Standpunkt zu verändern und gerade so wandeln sich auch die Bezugsgrößen, Überschneidungen und Farb- Formzusammenhänge, so dass sich zwischen den Werken dem Raum und der Form und zuguterletzt in Ihrer Bewegung auch der zeitliche Aspekt immer wichtiger dazu gesellt. Auf der rechten Seite erreichen wir nun einen breiten blauen Hängestreifen, der von der Decke herab fast bis zum Boden reicht. Schnell wird eine leichte Gegenreaktion zum massiven Beton-Türbogen augenscheinlich. Interessant ist die Entwicklung der Farbe auf dem Streifen: Er ist nicht nur Blau angesprüht oder angestrichen – und das gilt in vielen Fällen für Annie Krügers Objekte – sondern er ist mit Farben beschichtet, geradezu bespurt und gerillt. Der Pinsel und die Art der flüssigen Farbkonsistenz geben der Künstlerin die Möglichkeit mit dem Duktus eine spezielle Rhythmik einzuarbeiten, der die äußere Form unterstützt und ihr eine Richtung gibt. Sehen Sie genau hin, es ist immer wieder rätselhaft zu erkennen, wie die Farben überhaupt aufgetragen wurden. Hier entzieht sich die Arbeit also nicht nur den bekannten Kategorien Zeichnung, Malerei und Installation, sondern tischt uns die Künstlerin auch technisch immer wieder Überraschungen auf und überführt diese Werke in ein unbekanntes neues Terrain.
Die Raumbegehung endet mit der auf der Einladungskarte abgebildeten gelben Endlosschleife, die wie ein abgespanntes Laufband auf dem Boden liegt und mit durchgesenkter Bahn hohlkehlig und weich ihre eigene Stabilität und Materialität repräsentiert und dabei doch wieder alle Dimensionen bespielt, die dem Künstler zur Verfügung stehen und dabei auch inhaltlich den Rahmen dessen zeigt, was fast alle Künstler interessiert: die Frage nach dem Anfang und dem Ende, die ebenso wie die Frage nach Urheberschaft von Huhn und Ei bis auf weiteres ungeklärt bleiben muss. Das Werk bleibt in einem vitalen Kreislauf mit sich selbst und möchte das Ende erst einmal nicht mitdenken. Wir freuen uns zukünftig auf weitere unsere Sinne schärfenden Interventionen von Annie Krüger.
Enden möchte ich – das ist fast schon Tradition – mit einem kurzen passenden literarischen Beitrag: heute des Dichters Eugen Gomringer, eines Literaten der konkreten Poesie – er ist also auf einer anderen Seite der Kunst in ähnlichen Denkweisen wie Annie Krüger unterwegs; sein Gedicht folgt einer „Permutation“, also der Umstellung oder Vertauschung von Wörtern oder Satzteilen, bzw. der Neuanordnung und Kombination sprachlich-semantischer Elemente. Lassen Sie die Augen wandern und hören Sie zu.

Wolfgang Neumann, 2019