Ekrem Yalcindag, zweifellos einer der bekanntesten türkischen Künstler der Gegenwart, kommt 1964 in Gölbasi, Türkei zur Welt. Er will Kunst studieren und schreibt sich 1985 an der Dokuz Eylül Universität in Izmir ein. Hier wird Ekrem Yalcindag 1990 Meisterschüler von Adem Genc. 1994 übersiedelt der junge Künstler nach Deutschland, um an der Städelschule in Frankfurt am Main bei Hermann Nitsch und Thomas Bayrle seine Studien fortzusetzen. 1999 nimmt Kitsch Ekrem Yalcindag als Meisterschüler an. Ekrem Yalcindag steht in der Tradition der geometrischen Abstraktion und der Konzeptkunst.
Den die Blüte treibt
In der Wiederholung liegt der Keim der Verwandlung – zu den ost-westlichen Inspirationsquellen von Ekrem Yalcindag
Immer wieder Istanbul
Ekrem Yalcindag ist ein Magier der Malerei. Einer, der Wurzeln und Wachsrichtung seiner Kunst zu verschleiern weiß, sie nicht überstürzt offen legt. Der die Figur-Grund-Logik in morgenländisch mustergültige Bahnen lenkt um den Betrachterblick über Symmetrie und Systematik zu bannen und abzulenken wie einer, der den Hasen im Hut hat, jedoch vorgibt, der Zylinder sei nackt, Chapeau! Yalcindags Restmysterium erschließt sich dem flüchtigen Blick nicht: Figur und Grund gehen eine Geheimnis getränkte Verbindung ein, die kunstgeschichtlich hergeleitet werden und literarisch unterfüttert sein mag. Welche Einflüsterung sich jeweils verbirgt hinter Zeichensystemen und ornamental aufgefassten Bildflächen, die mit vorherrschender kreisförmiger oder kleinteilig abstrakter Diktion als Tondi oder All-over-Painting konzipiert sein können und bisweilen an Krakelee denken lassen, verraten diese kaum je sofort. Das Unverblümte ist die Grundmelodie der Arbeiten von Eurem Yalcindag nicht. Sein Schaffen ist hintergründig jenseits der Faszination des Faktischen. Diese Gemälde sind beziehungsreich und mannigfaltig wie die verschachtelten Gemächer im Topkapi-Serail, über Jahrhunderte Wohn- und Regierungssitz der Sultane des Osmanischen Reiches. Die Anlage kennzeichnen vier Höfe mit heterogenen Architekturen, deren Zuschnitt vom eigentlichen Palastbau bis hin zu Kiosken reicht: jenen frei stehenden Gartenpavillons des islamischen Kulturraumes, die über nationale Grenzen hinweg in Bautypologie sowie dem Sprachschatz des Westens weite Verbreitung fanden. Der Begriff Kiosk, der aus dem Persischen stammt, wurde über das Türkische zunächst nach Frankreich vermittelt, das wiederum Yalcindag als eine geistige Heimat gilt. Die Gemäuer und Räumlichkeiten des Topkapi sind geheimnisvoll und erschließen sich niemandem so ganz. Im kommenden Jahr jährt sich zum 550. Male die Fertigstellung des Palastes. In der Eingangshalle zum Harem, einem angenehm temperierten Vorraum mit Brunnen, begegnen Besucher, so will es scheinen, geradewegs Ekrem Yalcindag. Die Wanddekoration bereichern an diesem Ort großflächige Strukturen, wobei Rundformen – einem strengen geometrischen Muster folgend – eingelassen sind in ein übergeordnetes Orientierung gebendes Koordinatenund Leitsystem. Durch die versetzte Anordnung der Rundformen zeichnen sich Diagonalen in den umgebenden Weißraum, sodass der Eindruck eines Routenvorhangs entsteht. Orientalischen Traditionslinien mit ihren geometrisch vielschichtigen Abfolgen elementarer Motive folgt Eurem Yalcindag schlafwandlerisch unbeirrbar. Den Kunstformen der Metropole am Bosporus, in deren europäischem Viertel sein Atelier liegt, und (bild)künstlerischen Strategien seiner türkischen Heimat ganz allgemein sind viele Werkgruppen verpflichtet, ohne dass sie ihren Bezug zwingend so unverhohlen offenbaren wie das 2015 entstandene nahezu quadratische Großformat „Barock in Istanbul – 556 Farben“ mit einem der charakteristischen geometrisierten Blütenmotive Yalcindags als Basis und Modul, das sich aus sich selbst definiert wie die Wogen der Ägäis oder die Schnellen im Strom. Gemälde wie „Hautton“ aus dem Jahr 2009 – das Inkarnat changiert wie sonst unter den Händen von Visagisten –, oder das ein Jahr später entstandene ebenfalls als wandfüllendes Hochformat angelegte Werk „443 Farben“ sind Hommagen an die Raute. Sie stehen in der Tradition von Gestaltungen wie jenen im Topkapi-Serail: Die Raute ist ein per se dynamisierendes geometrisches Gebilde, im Freistaat Bayern gar identitätsstiftend. Ein Künstler wie Otto Moll, im Jahr 1907 Mitbegründer der Pariser „Académie Matisse“, hat ihr in seinem Bild „Komposition mit Zimmerlinde und Rautenmuster“ Bedeutung beigemessen und einer Sichtweise zum Ausdruck verholfen, die Yalcindag gleichsam extrapoliert und radikalisiert. Der Eigenwert von Farbe und Formen – wie der Raute – werden bildbestimmend, während der Bildgrund maximal entgrenzt und seinerseits als Bildgegenstand behandelt wird. In der Wiederholung liegt bei Yalcindag der Keim der Veränderung. Frühzeitig verzichtet er auf zentrale Motive, wobei seine Abstraktionsleistungen den Bezug zum Gegenstand der wirklichen Welt niemals gänzlich leugnen.
Paris
In Frankreich entdeckt Ekrem Yalcindag die Straße, den Boulevard Haussmann – die Achse des modernen Paris, wo Proust lange wohnhaft war –, Baudelaires „Blumen des Bösen“, die Scherenschnitte und Palmette von Henri Matisse. Wahrnehmungsschemata auszuhebeln, wie der französische Maler es tat, und die Fläche als Spielraum des Additiven und Ornamentalen zu feiern, sucht auch Ekrem Yalcindag, der der Zentralperspektive eine Absage erteilt wie Matisse, der Fußböden förmlich anhob, Tischplatten kippte oder Muster von Tischdecken und Tapeten unprätentiös interagieren ließ. Die Werkgruppe „Impressions from the streets“ geht unterdessen in immer weitere Runden. Spielarten der Op-Art gibt Yalcindag – 1964 geboren und damit im selben Jahr, in dem der Begriff erstmals verwendet worden ist – einen weiteren Dreh, während er sich mit Proust auf die Suche nach der verlorenen Zeit begibt. Jeden Sommer widmet er sich in einem seit 2003 gepflegten Ritual einem Literaten oder Künstler, darunter Giacometti, Brancusi, Duchamp oder Seurat. Die intensive Beschäftigung mit Proust währte sogar zwei Sommer.
Frankfurt und Berlin
Seit 2010 unterhält Ekrem Yalcindag auch ein Atelier in Berlin. An der Frankfurter Städelschule hatte er ab dem Jahr 1994 sein 1985 in Izmir begonnenes Kunststudium fortgeführt. Er ist 30, beginnt, pastos zu malen und entwickelt erste Blütenmotive. Zentraler Inspirationsort ist der Frankfurter Palmengarten. Naturbetrachtungen befruchten seine Bilder, die Naturkontemplation erdet sie von jetzt an dauerhaft. Ornamente und geometrische Muster beschäftigen den Maler zunehmend seit der Jahrtausendwende. Es entstehen Camouflage-Bilder sowie monochrome Gemälde mit Blütenmotiv, deren Farbsättigung nur durch die Konturen der jeweiligen Binnenzeichnung gebrochen wird: „Blue-Yellow“, „Green-Violet“ oder „Magenta-Orange“ nennt Yalcindag repräsentative Arbeiten von 2015. Der Ausdruckskraft der Linie spürt er noch in unvermuteten kunstgeschichtlichen Nischen nach. Ausführlich hat er sich mit der linienbetonten Malerei der Nazarener beschäftigt, denen im Frankfurter Städel einst der Nazarenersaal gewidmet war. Friedrich Overbeck ist für Yalcindag eine Referenzfigur.
Ludwigsburg
Eine Auswahl seiner Blütenbilder ist neben dem Rautenbild „Black-White“ aus dem Jahr 2016 und drei ebenfalls im vorigen Jahr entstandenen Tondi im Kunstverein Ludwigsburg zu sehen, der Ekrem Yalcindag die erste institutionelle Einzelausstellung im süddeutschen Raum einrichtet. Die Rundbilder lassen sich als förmlich eingefrorene erstarrte Zeit betrachten, leiten über zu Prousts Opus Magnum À la recherche du temps perdu, jenem nicht enden wollenden riesigen Labyrinth – damit wurde der Roman verglichen –, das gespickt ist mit Erinnerungen, die in Assoziationsschleifen verbunden werden wie die Strukturen und Linien in den Tableaux und Tondi von Ekrem Yalcindag. Die Werkreihe „Impressions from the streets“ variiert konzentrische Kreise. Das Grundmotiv bleibt dasselbe, auch wenn die Kreise wellig interpretiert werden: An Schallplatten, bunte Wagenräder oder Zielscheiben erinnernd – an Jasper Johns‘ Targets wäre zu denken –, entstehen formal straffe Kompositionen im Wechsel mit Gegenstücken, bei denen die Kreise wellenförmig verlaufen, während sie Assoziationen an Reifen hervorrufen. Es scheint, als würden Fahrzeuge, Menschen, Warenströme – alles, was sich in der Stadt bewegt und kreist – in ein immer rasanteres Tempo versetzt: Turboästhetik wie sie Künstler verfolgen seit dem Futurismus, der die Nike von Samothrake in Bezug gesetzt hatte zu einem Automobil, verhandelt Yalcindag, obwohl seine Werke eine bemerkenswert lange Entstehungszeit haben. Seine Tondi erscheinen wie Kreisel, die gestoppt wurden im Augenblick höchster Drehzahl. Zugleich erinnern sie an aufgewickelte Luftschlangen. Das elementar Spielerische verlässt Yalcindag nie. Ein Werk wie „Schloss Balmoral – 390 Farben“ aus dem Jahr 2015 ist derweil auch eine Referenz an Bodenbilder in der Gestalt von Parkett-Verlegemustern: Abermals begegnet das Rautenmuster. Als Spiel mit Licht und Formen betrachtet dieses die Parkett-Branche. Der dreidimensionale Effekt ist es, der auch im gemalten Bild eine enorme Plastizität suggeriert. Zur Raute in vitalem Kontrast steht Yalcindags Blütenmotiv. Wie feine Risse und Sprünge auf der Oberfläche muten die Binnenkonturen in den floralen Gemälden an. Kein Maschennetz ist einem anderen kongruent. Die Krakelige ist absichtsvolle Illusion und Pointierung, Schmuck im besten Sinne sowie Verweis auf die Lebensalter, die nicht explizit sichtbar sein müssen. Ekrem Yalcindag konzipiert den Bildraum als kontemplativ rezipierbares Blütenmeer zwischen geometrischer und floraler Abstraktion. Dieser Ansatz erlaubt ihm ein Kontinuum, wo sich die Frage nach Knospe, Kelchblatt, Blüte nicht stellt: Mögen Gestalt, Färbung und Wasserhaushalt von Pflanzen in der Natur ständigem Wandel unterworfen sein, Yalcindags seriell aufbereitete, wie für ein Teppichdesign stilisierte Flora welkt nie. Auch so geht Magie.
Dorothee Baer-Bogenschütz