Thomas Putze (* 1968 in Augsburg ) absolvierte eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner und studierte Theologie bevor er in den 1990er Jahren als freiberuflicher Illustrator und Musiker arbeitete. In dieser Zeit gründete er die Band The Chill. Von 1998 bis 2003 studierte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart Bildhauerei bei Werner Pokorny und Micha Ullman. 2005 erhielt er ein Graduiertenstipendium des Landes Baden-Württemberg. Putzes Werke waren in zahlreichen Ausstellungen regional und überregional zu sehen. Unter anderem ist er mit Arbeiten in den Sammlungen der Staatsgalerie Stuttgart, dem Forum Kunst Rottweil und der Sammlung LBBW vertreten.
Die Skizze, mit der Thomas Putze sein Konzept für eine große und raumgreifende Installation im Kunstverein Ludwigsburg entwickelt, mutet an, wie der Prospekt eines mittelalterlichen Welttheaters. Es gibt den Himmel, den Ort der Ordnung, der Abstraktion, der ästhetischen Verbindungen und der Poesie. Es gibt die Hölle, den Ort des Chaos, der ungeordneten Materie, des Desasters und dazwischen ist die Erde, eine Zone, in der sich das Leben in all seinen Formen tummelt, die Zone des Figurativen. Den drei Zonen sind in der Skizze bei Thomas Putze auch gleich künstlerische Mittel, Zustände oder Ausdrucksformen zugeordnet: Eine Wandarbeit dem Himmel, eine gepäckträgerinstallierte Zeichnungszone der Erde und ein Schrotthaufen der Hölle.
In Vorbereitung auf die Installationsarbeiten im Ausstellungsraum des Kunstvereins Ludwigsburg hat Putze jede Menge Astmaterial und Fahrradgabeln – der Größe nach vermutlich vor allem Reste zerlegter Kinderfahrräder – zusammengetragen. Ihrer ursprünglichen Funktion entledigte Fahrradteile und die Überreste gefällter Bäume sind das Rohmaterial der Desasterzone im Ausstellungsraum. Der Wust des Schrotthaufens – das, was dem sinnvollen Gebrauch längst entzogen ist – bleibt hier jedoch nicht einfach müde durcheinander geworfenes Material: der Schrott der Zivilisation wird bei Putze vielmehr zum Anfangspunkt eines Schaffensprozesses, in dem aus Gefundenem Neues erspürt und herausgeschält wird. Es entstehen freie Strukturen, die in ihrer abstrakten Ästhetik in den Raum wachsen und diesem neue Form geben. Mal streben die neu geschaffenen Verbindungen auseinander und ergreifen den Raum, mal bilden sie Verdichtungen, werden zu Bündeln oder Haufen. Eine Fahrrad- und Astgabelverbindung wird plötzlich zum Pinocchio mit langer Nase. Figürliches entsteht. Aber auch dieses, scheinbar schon Erkannte und Definierte, kann sich im Prozess weiterentwickeln und verändern.
Das Chaos des Materials wird zum Anfangspunkt eines schöpferischen Prozesses. Da wo das Leben der Dinge endet, fängt bei Putze ein neues Leben der Materie an. Figuren und Figürliches gehören in der Ordnung seines Welttheaters in den Bereich der Erde, sie sind Teil der figurativen Zone. Wilde Gesellen mit langen Nasen und anderen merkwürdigen Gliedmaßen schälen sich aus dem Gestrüpp der abstrakten Formen. Hier reihen sich in der Ausstellung auch großformatige Tuschezeichnungen in der sogenannten gepäckträgerinstallierten Zeichnungszone aneinander. Zu sehen sind allerlei Szenen mit Fahrrädern, die wild durch den Bildraum wirbeln und die Dynamik des Themas geradezu selbst verkörpern, wenn sie beispielsweise auch mal aus Kaffeesatz entstanden sind, dessen Konsistenz zwischen wässrig und dickflüssig kaum zu kontrollieren und daher in seinem bildnerischen Potenzial so spannend ist. Die Zeichnungen eröffnen einen phantastisch-narrativen Raum. Sie entstehen – ebenso wie die organisch wuchernde und nicht abschließend kontrollierbare Installation – durch die künstlerische Imagination, die Gestalt erkennt und diese bildnerisch weiterspinnt.
Zeichnungen, Skulpturen und Installationen sind bei Putze mehr Findungen als Erfindungen. Das Material bleibt immer sehr roh, die Äste werden nur grob geschnitzt, das Holz nur rudimentär behauen. Die Fahrradgabeln bleiben immer auch noch als solche zu erkennen. Die Tusche bleibt in ihrer Materialität erkenn- und erlebbar. Putzes Himmel – die abstrakte aufgeräumte Zone der Poesie – ist dagegen schwer zu antizipieren, aber eine Überlegung, die sich aufdrängt, hat man schon Hölle und Erde definiert. In Putzes Skizze ist der Himmel der Ort der ästhetischen Verbindungen, ein Raum, in dem das wilde Material, in welchem das schöpferische Potenzial des Putschen Universums schlummert, in die geordnete Form einer geplanten Wandarbeit überführt ist. Das, was im Chaos als Potenzial steckt, ist in der himmlischen Ordnung in eine definitive, abgeschlossene Form gebracht. Ist hier der Tod anzusiedeln? fragt Putze in seiner Skizze. Entsprechend symmetrisch weist Putze in seiner Skizze dem Chaos die Lebensenergie zu. Auch dies nicht ohne Fragezeichen.
Das Potenzial, aus dem Schrott etwas zu schaffen, ist etwas Mögliches aber nichts Zwingendes. Es kann etwas entstehen. Das Kunstschaffen wird hier als archaischer Prozess der Schöpfung aus dem Sumpf der ungestalten Materie imaginiert. Nur da, wo Chaos und ungeformte Materie sind, ist etwas möglich. Zwischen Chaos und Ordnung, Hölle und Himmel ist bei Putze, wie im mittelalterlichen Welttheater, die Erde mit ihren endlosen Formen: ein Ort voller Potenziale zwischen Rudiment und Perfektion. Die Direktheit der Analogie zum mittelalterlichen Weltbild ist jedoch auch ein Augenzwinkern des Künstlers, dessen Ur-Sumpf aus ausrangierten Radgabeln ehemaliger Kinderfahrräder besteht. Die vom Künstler geschaffene Situation im Ausstellungsraum im Kunstverein Ludwigsburg ist auch ein Echo jenes Ortes, an dem Thomas Putze arbeitet und seine Kunst lagert. Dort wuchern ebenfalls Desasterzonen, gesammelte Fundmaterialien aller Art sowie vielfältigstes geborgenes Astmaterial gefällter Bäume über das Gelände. Inmitten dessen hängt, steht oder nistet plötzlich das ein oder andere Wesen, das sich als Affe, Schaf, Ziege oder majestätischer Vogel zu erkennen gibt. Ein großer Container beherbergt unzählige weitere Skulpturen, die mehr Gesellen als Objekte sind. Aufgeschnittene Autoreifen bilden die Schwingen eines Adlers, wild ineinander geschlungene Fahrradreifen formen die Körper einer frechen Affenbande. Eine Spätzlepresse dient einem eleganten Reiher als Kopf. Ein Schaf hat Ohren aus alten Skischuhen. Die Sitzgelegenheit für einen Vogel ist ein zweckentfremdeter Pömpel. All diese Neu- und Umschöpfungen Putzes treten bei aller Skizzenhastigkeit und Großzügigkeit ihrer Machart sehr präsent in den Raum. Die Frage nach ihrem Kunstsein oder ihrer möglichen Banalität stellt sich nicht. Sie sind vital und eindeutig Teil des Irdischen. Immer wieder tauchen Affen im Bestiarium
Putzes auf. Ein Affe aus dem Jahr 2011 trägt ein Superaffen-Shirt und wirkt sehr menschenähnlich.
Menschenähnliche Züge hat auch ein Schneeleopard mit String-Tanga, der kampfeslustig die plüschige Faust reckt. Tiere, die Menschliches haben, aber auch menschliche Figuren, wie der langnasige Pinocchio, die in ihrer Kreatürlichkeit den Tieren verwandt erscheinen, erinnern bei Putze an das definitorische Problem des Menschen. Giorgio Agamben bringt dieses Problem in seinem Text „Das Offene – Der Mensch und das Tier“ auf den Punkt: Es gibt keine Essenz des Menschlichen, es gibt nichts Greifbares, das den Menschen eindeutig vom Affen unterscheiden würde. Es gibt nur das Bewusstsein über das Menschsein. Und das ist etwas, das permanent produziert werden muss. Materie, Figur und Abstraktion sind die Zutaten dieser permanenten Produktion des menschlichen Seins, das Bewusstsein über diese oder jene Form, die menschliche Form, die nicht einfach ist, sondern permanent zerfällt und entsteht. Putzes Wesen sind Teil dieser offenen Un- Ordnung. Putze hält das Spiel am Laufen. In der grob behauenen Weise seiner Figuren lässt er den skizzenhaften Charakter der unterschiedlichen Daseinszustände sichtbar werden und hält zu allem die nötige Distanz. Er weckt das Schmunzeln, das jegliche Erkenntnis über sich selbst und das prekäre Sein der eigenen Form überhaupt erst möglich macht.
In seiner Performance kann Putze auch mal selbst zum Dreirad werden. Die Grenzen sind fließend. In diese Welt nimmt Putze uns mit, er lässt sie uns weiterspinnen. Die Installation ist offen, Material ist da, es darf während der Ausstellung an – und weitergebaut werden. Bildhauerei, Zeichnung, Performance, fertig und unfertig, der Raum und die Kunst gehen bei Putze ineinander über, auch hier sind die Grenzen geöffnet.
Julia Connert